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Wann wird die eRechnung zur Pflicht für die Anwaltschaft?

19. November 2024

Nachstehend erfolgt die Wiedergabe eines Beitrages der Rechtsanwaltskammer Berlin im Kammerton 05/2024
Quelle: Kammerton Ausgabe 5/2024

Das Wachstumschancengesetz tritt am 01.01.2025 in Kraft. Nach mehreren Änderungen im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens hat der Bundesrat dem Gesetz in der vom Vermittlungsausschuss gefundenen Fassung am 22.03.2024 zugestimmt. Teil der Neuregelungen ist die Einführung der verpflichtenden elektronischen Rechnung in Deutschland.

Fragen an Vorstandsmitglied Sabine Krause über die Auswirkungen auf die Anwaltschaft.

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Rechtsanwältin Sabine Krause

Frau Krause, das Wachstumschancengesetz ist verabschiedet worden und wird am 01.01.2025 in Kraft treten. In welcher Form muss die Anwaltschaft dann ihre Rechnungen erstellen?

Ab Januar 2025 werden elektronische Rechnungen an unternehmerische Mandanten mit Sitz in Deutschland zum Standard. Es ist aber unter bestimmten Voraussetzungen und für eine Übergangszeit bis längstens 2028 weiterhin zulässig, Papier- und PDF-Rechnungen zu erstellen und zu versenden.

Was ist nach § 14 Abs.1 S.3 UStG n.F. unter einer elektronischen Rechnung zu verstehen?

Eine „elektronische Rechnung“ ist nach der neuen Definition in § 14 Abs. 1 Satz 3 UStG n.F. eine Rechnung, die in einem strukturierten elektronischen Format ausgestellt, übermittelt und empfangen wird und eine elektronische Verarbeitung ermöglicht. Das strukturierte elektronische Format muss der europäischen CEN-Norm EN16931 gemäß der Richtlinie 2014/55/EU vom 16. April 2014 über die elektronische Rechnungsstellung bei öffentlichen Aufträgen entsprechen. Erlaubt sind auch alternative Datenformate, die zwischen Rechnungsaussteller und Rechnungsempfänger vereinbart werden können, soweit sie interoperabel mit der EN16931 bezogen auf die Rechnungspflichtbestandteile sind.

Diese Vorgaben werden durch die XRechnungen erfüllt, die im öffentlichen Sektor bereits seit 2020 etabliert sind. Das Bundesfinanzministerium hat in einem Schreiben ausgeführt, dass auch sog. hybride ZUGFeRD-Rechnungen als gesetzeskonform anerkannt werden. Diese beinhalten sowohl eine XML-Datei für die automatisierte Weiterverarbeitung als auch zusätzlich eine lesbare PDF-Ansicht der Rechnung. Die Vorgaben für die elektronische Rechnungslegung sind somit bewusst technologieoffen und hybride Formate wie ZUGFeRD werden helfen, uns den Übergang in die Digitalisierung der Rechnungsprozesse zu erleichtern.

Die Übertragungswege für die elektronischen Rechnungen ab 2025 sind nicht gesetzlich definiert, d.h. es reicht eine Übermittlung per E-Mail.
Unstrukturierte PDF-Formate, die aktuell noch als elektronische Rechnungen gelten, werden ab 2025 nicht mehr als elektronische Rechnungen anerkannt. Sie unterfallen dann den neuen Regelungen für sog. sonstige Rechnungen und sind ab 2028 nicht mehr zulässig, wenn eine gesetzliche eRechnungspflicht besteht.

In welchen Fällen sind 2025 noch Papierrechnungen und PDF-Rechnungen erlaubt?

Der postalische Versand von Papierrechnungen und der E-Mail-Versand von eingescannten PDF-Rechnungen darf bis Ende 2026 weiterhin erfolgen. Die gesetzliche Übergangsregelung sieht vor, dass es wie bisher auch für Papierrechnungen nicht der Zustimmung des Rechnungsempfängers bedarf. Für PDF-Rechnungen muss die rechnungsausstellende Kanzlei aber unverändert die Zustimmung des Rechnungsempfängers einholen. Kanzleien mit einem Vorjahresumsatz bis 800.000 EUR dürfen Papierrechnungen und PDF-Rechnungen (mit Zustimmung) sogar noch bis Ende 2027 ausstellen. Ab 2028 wird dann aber für alle Kanzleien die elektronische Rechnungslegung verpflichtend. Dann sind auch Papier- und PDF-Rechnungen nicht mehr zulässig.

Bestehen auch dann noch Ausnahmen von der Verpflichtung zur eRechnung?

Von der eRechnungspflicht sind auch über den 31.12.2027 hinaus Kleinbetragsrechnungen bis 250 EUR brutto und Rechnungen an Nichtunternehmer (B2C) ausgenommen. Die eRechnungspflicht gilt zudem generell nur im nationalen Bereich, d.h. nicht gegenüber Mandanten, die ihren Sitz außerhalb Deutschlands haben. In diesen Fällen bleiben Papierrechnungen der Standard, wobei PDF-Rechnungen und elektronische Rechnungen im neuen strukturierten Format wie bisher nur mit Zustimmung des Empfängers erteilt werden dürfen.

Worauf muss sich die Anwaltschaft ab 2025 im Hinblick auf den Empfang von Rechnungen einstellen?

Für den Versand der elektronischen Rechnung sieht der Gesetzgeber mehrjährige Übergangsfristen bis Ende 2027 vor, auf den Empfang von elektronischen Rechnungen müssen allerdings schon ab dem 01.01.2025 alle Kanzleien vorbereitet sein. Das betrifft alle strukturierten eRechnungsformate nach EN16931. Denn solche Rechnungen können von da an von allen Unternehmen versendet werden, ohne dass hierfür die Zustimmung des Rechnungsempfängers erforderlich sein wird. Hierin besteht wegen der kurzen Umsetzungsfrist wohl die größte Herausforderung für die Anwaltschaft.

Es sollte in der Kanzleiorganisation mindestens eine E-Mail-Adresse zum Empfang von eRechnungen vorgehalten werden. Empfehlenswert ist, rechtzeitig ein zentrales Rechnungseingangs-E-Mail-Postfach und das „Wunschformat“ an Lieferanten und Dienstleister zu kommunizieren. Die Visualisierung als PDF bzw. die elektronische Verarbeitung kann dann im Anschluss erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass die gängigen Kanzleisoftwareanbieter bis Jahresende entsprechende IT-Tools zur Verfügung stellen, mit denen die eRechnungsformate umgewandelt und verarbeitet und auch erstellt werden können.
Wichtig ist noch, dass die eingehenden eRechnungen revisionssicher und elektronisch archiviert werden müssen.

Während des Gesetzgebungsverfahren hat es Kritik an der verpflichtenden Einführung der elektronischen Rechnung für die Anwaltschaft gegeben, weil
• die Angabe des Leistungsempfängers gegen die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht verstoße
• dies der in § 10 Abs.1 S.1 RVG-E geplanten Vereinfachung, durch die Rechnungen nur noch in Textform erstellt werden müssen, widerspreche und
• damit ein erheblicher Aufwand für die Anwaltschaft befürchtet wird.

Wurde dies vom Vermittlungsausschuss / im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt?

Die Angabe des Leistungsempfängers und konkrete Angaben zur Leistung gehören meines Erachtens bereits nach aktuell geltendem Recht zu den Pflichtinhalten einer Rechnung nach § 14 Abs. 4 UStG, in der über eine Beratung oder sonstige anwaltliche Dienstleistung an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen oder an eine juristische Person abgerechnet wird. Dies wird sich durch Einführung der eRechnungspflicht ab 01.01.2025 nicht ändern. Nur dann, wenn die Rechnung des Rechtsanwalts oder der Rechtsanwältin diese gesetzlichen Mindestangaben enthält, ist der Rechnungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt. Die Anwaltschaft muss den durch die Rechnungspflichtinhalte nach § 14 Abs. 4 UStG bestehenden steuerrechtlichen Anforderungen und den durch die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht nach § 43a Abs. 2 BRAO bestehenden berufsrechtlichen Anforderungen schon heute gleichzeitig begegnen, indem sie diejenigen Angaben in die Rechnung aufnimmt, die für die Identifizierung der Leistung unbedingt notwendig sind, sich dabei aber weitestgehend auf generische Formulierungen und ein inhaltliches Minimum beschränken. Da die eRechnungen mit der geplanten Einführung eines elektronischen Mehrwertsteuermeldesystems („Digital Reporting“) voraussichtlich ab 2030 nicht nur zwischen Rechtsanwalt und Mandanten ausgetauscht werden, sondern dann auch den Finanzbehörden ein unmittelbarer Zugriff auf die Rechnungen ermöglicht werden soll, ist es empfehlenswert, vorsorglich bereits im Rahmen der Mandatsvereinbarung eine Einwilligung des Mandanten nach § 2 Abs. 4a BORA (Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht für die elektronische Rechnungslegung) einzuholen.

Nicht alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte verfügen über ein Zertifikat für eine qualifizierte elektronische Signatur. Ein Kritikpunkt während des Gesetzgebungsverfahrens war daher auch die Befürchtung, dass die eRechnung auch zukünftig zwingend mit einer qualifizierten elektronischen Signatur gesichert werden müsste und zwar auch dann, wenn das Schriftformerfordernis des § 10 RVG entfällt. Festzustellen ist, dass auch nach § 14 Abs. 3 UStG n.F. bei Übermittlung einer eRechnung Verfahren angewendet werden müssen, die die Herkunft und Echtheit der Daten garantieren. Anderenfalls dürften die Rechnungen durch den Rechnungsempfänger nicht zum Vorsteuerabzug verwendet werden. Beruhigend ist jedoch, dass auch mit der Einführung der eRechnungspflicht eine qualifizierte elektronische Signatur des rechnungsausstellenden Anwalts nicht zwingend vorgeschrieben ist. Denn wie bisher wird für die Herkunfts- und Echtheitskontrolle auch ein funktionierendes innerbetriebliches Kontrollverfahren (IKS) beim Rechnungsempfänger ausreichen. Der neue § 14 Abs. 3 UStG ist insofern mit den bisher geltenden Regelungen in § 14 Abs. 1 Satz 2-6 und Abs. 3 UStG wortgleich. Der Gesetzgeber schreibt weiterhin kein technisches Verfahren vor, das Rechnungsaussteller und -empfänger verwenden müssen, um die korrekte Übermittlung ohne Verfälschung der Rechnung zu garantieren. Wie bisher können auch ab 2025 im Rahmen des IKS beim Rechnungsempfänger manuelle Prüfschritte genutzt werden, z.B. ein zuverlässiger Abgleich der Rechnung mit den geschäftlichen Unterlagen (s. a. Abschn. 14.4 UStAE zu § 14 UStG).

Es ist absehbar, dass die deutsche Anwaltschaft wie alle deutschen Wirtschaftsbeteiligten im B2B-Geschäft für die Digitalisierung der Rechnungseingangs- und -ausgangsprozesse zusätzliche Aufwendungen kalkulieren muss. Der Gesetzgeber ist der Kritik der Verbände mit leicht verlängerten Umsetzungsfristen begegnet, hat aber klargestellt, dass an der elektronischen Rechnungslegung kein Weg vorbeiführt. Das Bundesfinanzministerium hat unterstützend angekündigt, ein kostenloses Angebot zur Erstellung und zur Visualisierung elektronischer Rechnungen zu entwickeln. Dies würde Kanzleien, die keine eRechnungsfähige Software einsetzen, zumindest entlasten können.

Hinweis: Diese Ausführungen ersetzen keine individuelle steuerrechtliche Beratung.

Tarifvertragliche Inflationsausgleichsprämie – Ausschluss von Arbeitnehmern in der Passivphase ihrer Altersteilzeit

13. November 2024

Der im Tarifvertrag für energie- und wasserwirtschaftliche Unternehmungen geregelte Ausschluss von Arbeitnehmern, die sich in der Passivphase ihrer Altersteilzeit befinden, vom Bezug einer Inflationsausgleichsprämie ist unwirksam.

Der Kläger ist Arbeitnehmer eines Unternehmens der Energiewirtschaft. Er vereinbarte mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten Altersteilzeit im Blockmodell mit Beginn der Passivphase am 1. Mai 2022.

Der Arbeitgeberverband energie- und wasserwirtschaftlicher Unternehmungen e.V. einigte sich mit den Gewerkschaften ver.di und IG BCE anlässlich der Tarifrunde 2023 in dem „Tarifvertrag über eine einmalige Sonderzahlung gemäß § 3 Nr. 11c Einkommenssteuergesetz“ (TV IAP) auf die Gewährung einer Inflationsausgleichsprämie, die unabhängig vom individuellen Beschäftigungsgrad 3.000,00 Euro beträgt. Es handelt sich nach der Protokollnotiz zum TV IAP um eine Beihilfe bzw. Unterstützung des Arbeitgebers zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise. Von der Zahlung sind gemäß § 1 Abs. 2 Satz 3 TV IAP ua. Arbeitnehmer ausgeschlossen, die sich am 31. Mai 2023 in der Passivphase der Altersteilzeit oder im Vorruhestand befanden.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Inflationsausgleichsprämie iHv. 3.000,00 Euro. Er hat ua. die Auffassung vertreten, der Anspruchsausschluss von Arbeitnehmern in der Passivphase der Altersteilzeit stelle eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen der Teilzeit dar. Die Inflationsausgleichsprämie werde ausschließlich als Leistung zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise gezahlt und verfolge daneben keinen arbeitsleistungsbezogenen Zweck.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Neunten Senats des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Beklagte ist zur Zahlung der streitgegenständlichen Prämie verpflichtet.

Der Ausschluss von Arbeitnehmern in der Passivphase der Altersteilzeit durch § 1 Abs. 2 Satz 3 TV IAP verstößt gegen § 4 Abs. 1 TzBfG. Danach darf ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht.

Eine Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten kann sachlich gerechtfertigt sein, wenn sich ihr Grund aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang der Teilzeitarbeit herleiten lässt. In der Bestimmung des Leistungszwecks sind die Tarifvertragsparteien dabei gemäß Art. 9 Abs. 3 GG weitgehend frei. Mit der Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 3 TV IAP haben sie ihre durch § 4 Abs. 1 TzBfG begrenzte Rechtsetzungsbefugnis überschritten. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern aufgrund der Freistellung in der Altersteilzeit gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten lässt sich aus den erkennbaren Leistungszwecken und dem Umfang der Teilzeitarbeit nicht herleiten. Die Ausgestaltung der Anspruchsvoraussetzungen steht der Annahme entgegen, dass es sich bei der Inflationsausgleichsprämie auch um eine Gegenleistung für erbrachte Arbeit handelt. Auch in Bezug auf die vergangene Betriebstreue sind keine Aspekte ersichtlich, die die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten. Von einer zukünftigen Betriebstreue haben die Tarifvertragsparteien den Anspruch nicht abhängig gemacht. Unterschiede für einen unterschiedlichen Bedarf aufgrund der gestiegenen Verbraucherpreise zwischen Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten, die sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befinden, sind nicht erkennbar.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12. November 2024 – 9 AZR 71/24
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 5. März 2024 – 14 Sa 1148/23

Quelle: Pressemitteilung 29/24 des Bundesarbeitsgerichtes vom 12.11.2024

Landesarbeitsgericht bestätigt Verbot des Berliner Kita-Streiks

14. Oktober 2024

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat heute im gerichtlichen Eilverfahren die Berufung der Gewerkschaft ver.di zurückgewiesen. Damit hat es die Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin über die Untersagung des angekündigten unbefristeten Streiks in den Kitas der Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin bestätigt.

Die Gewerkschaft ver.di hatte am 26.09.2024 zu einem unbefristeten Streik in den Kitas der Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin aufgerufen. Ziel des Streiks war die Erzwingung von Tarifverhandlungen mit dem Land Berlin über die Regelung einer Mindestpersonalausstattung in den Kitas, über Regelungen zum Belastungsausgleich (Konsequenzenmanagement) und für mehr Zeit für Auszubildende. Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Berliner Eigenbetriebs-Kitas richten sich nach dem zwischen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) und der Gewerkschaft ver.di abgeschlossenen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L). Das Land Berlin lehnte Tarifverhandlungen mit ver.di ab, weil es als Mitglied der TdL nach deren Satzung keine von den Regelungen des TV-L abweichenden Tarifverträge schließen dürfe. Für den Fall eines Verstoßes dagegen habe die TdL bereits beschlossen, das Land Berlin aus ihrem Arbeitgeberverband auszuschließen. Im Übrigen verstoße ver.di mit den Streikforderungen betreffend Entlastungsmaßnahmen für Erzieherinnen und Erzieher und für ein Mehr an Zeit für Auszubildende gegen die Friedenspflicht während laufender Tarifverträge.

Das Arbeitsgericht hatte den ab dem 30.09.2024 angekündigten Streik durch Urteil vom 27.09.2024 untersagt (PM Nr. 18/24).

Das Landesarbeitsgericht hat die Entscheidung des Arbeitsgerichts im Ergebnis bestätigt. Das betrifft sowohl die Untersagung des aktuellen Streiks als auch die Einschätzung, dass der Gewerkschaft nicht grundsätzlich Streiks gegen das Land Berlin betreffend die Beschäftigten in Eigenbetriebs-Kitas verboten sind.

Das Risiko des Landes, aufgrund des Beschlusses der TdL aus dem Arbeitgeberverband ausgeschlossen zu werden, überwiege nicht das Grundrecht der Gewerkschaft auf Arbeitskampfmaßnahmen aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die TdL rechtlich gehindert wäre, ihren Beschluss unter besonderen Umständen zu ändern. Deshalb seien Streiks zur Durchsetzung von Tarifverhandlungen mit dem Land Berlin über Arbeitsbedingungen der Erzieherinnen und Erzieher in den Eigenbetriebs-Kitas des Landes Berlin nicht grundsätzlich unzulässig.

Der aktuell angekündigte Streik sei rechtswidrig und deshalb zu untersagen, weil die Gewerkschaft mit einem Teil ihrer Streikforderungen gegen die Friedenspflicht verstoße. Die Friedenspflicht resultiere aus § 52 TV-L. Diese Regelung speziell für Beschäftigte des Sozial- und Erziehungsdienstes der Länder Berlin, Bremen und Hamburg sei in der Tarifrunde zwischen der TdL und der Gewerkschaft ver.di im Dezember 2023 vereinbart worden. Ausgangspunkt dieser Vereinbarung sei die von ver.di geäußerte Erwartung gewesen, die Regelungen zur Entlastung von Erzieherinnen und Erziehern in der TV-L aufzunehmen, die ver.di tariflich mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände im Jahr 2022 geregelt hatte (TVöD-VKA). Dazu gehörten u.a. eine monatliche Zulage für Erzieherinnen und Erzieher und jährlich zwei Rehabilitationstage. Im Zuge der Tarifverhandlungen mit der TdL sei über die diesbezüglichen Regelungen aus dem TVöD-VKA verhandelt worden. Ergebnis der Verhandlung sei die Aufnahme der Zulagenregelung in den TV-L gewesen, während sich die Gewerkschaft mit den weiteren Punkten nicht habe durchsetzen können. Da alle Regelungen des TVöD-Pakets Gegenstand der Verhandlungen gewesen seien, sei dieses Paket abschließend geregelt worden. Die aktuellen Streikforderungen seien teilweise in diesem Regelungspaket enthalten, nämlich hinsichtlich der Regenerationstage und hinsichtlich der Vorbereitungszeit. Dadurch werde die Friedenspflicht verletzt.

Eine weitere Verletzung der Friedenspflicht durch die Forderung nach mehr Zeit für Auszubildende liege nicht vor. Darauf komme es aber entscheidungserheblich nicht mehr an, da der Streik aus anderen Gründen rechtswidrig sei.

Gegen die Entscheidung ist kein Rechtsmittel zulässig, sie ist rechtskräftig.

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Oktober 2024, 12 SaGa 886/24

Quelle: Pressemitteilung Nr. 20/24 vom 11.10.2024

Arbeitsgericht untersagt Kita-Streik ab dem 30.09.2024

30. September 2024

Das Arbeitsgericht Berlin hat heute auf den Antrag des Landes Berlin im gerichtlichen Eilverfahren den von der Gewerkschaft ver.di ab dem 30.09.2024 angekündigten Streik in den Kitas der Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin untersagt.

Zwischen der Gewerkschaft ver.di und dem Land Berlin waren seit April 2024 Gespräche über die pädagogische Qualität und über Entlastungen der Erzieherinnen und Erzieher sowie der Auszubildenden in diesem Bereich geführt worden, die erfolglos blieben. Zu dem unbefristeten Streik ab dem 30.09.2024 hatte die Gewerkschaft ver.di am 26.09.2024 ihre Mitglieder aufgerufen, nachdem in einer Urabstimmung 91,7 % der Mitglieder dafür gestimmt hatten. Ziel des Streiks war die Erzwingung von Tarifverhandlungen über die Regelung einer Mindestpersonalausstattung, über Regelungen zum Belastungsausgleich (Konsequenzenmanagement) und für eine Verbesserung der Ausbildungsbedingungen.

Das Land Berlin sah sich rechtlich als Arbeitgeber nicht zu Tarifverhandlungen mit ver.di in der Lage, weil es als Mitglied der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) nach deren Satzung keine von den Regelungen des Tarifvertrags der Länder (TV-L) abweichenden Tarifverträge schließen dürfe. Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Berliner Eigenbetriebs-Kitas richten sich nach dem TV-L. Nachdem das Land Berlin im Jahr 2020 mit der Zusage der Hauptstadtzulage von den tariflichen Bedingungen des TV-L abgewichen war, hatte die TdL für den Fall eines weiteren Verstoßes des Landes Berlin gegen die Satzung seinen Ausschluss aus der TdL beschlossen. Das Land Berlin ist außerdem davon ausgegangen, dass ver.di mit den Streikforderungen betreffend Entlastungsmaßnahmen für Erzieherinnen und Erzieher und für ein Mehr an Zeit für Auszubildende gegen die Friedenspflicht während laufender Tarifverträge verstoße, weil bereits entsprechende tarifliche Regelungen existierten.

Das Arbeitsgericht hat den ab dem 30.09.2024 angekündigten Streik untersagt und der Gewerkschaft aufgegeben, ihren Streikaufruf öffentlich zu widerrufen. Es ist von einer fehlenden Rechtmäßigkeit des Streiks ausgegangen. Die Gewerkschaft ver.di verstoße mit diesem Streik gegen die Friedenspflicht wegen der bestehenden tariflichen Regelungen zur Zulage für Beschäftigte in Eigenbetriebs-Kitas des Landes Berlin im TV-L und wegen der bestehenden Entlastungsregelungen für Auszubildende im maßgeblichen Ausbildungstarifvertrag. Daneben seien auch verbandspolitische Erwägungen des Landes Berlin von der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz geschützt, weil das Land als Arbeitgeber berechtigt sei, sich in der Tarifgemeinschaft der Länder zu organisieren. Das Risiko eines Ausschlusses aus der TdL bei einem eigenständigen Tarifabschluss müsse das Land Berlin nicht eingehen. Das grundgesetzlich garantierte Streikrecht der Gewerkschaft aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz überwiege insoweit nicht.

Gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts kann das Rechtsmittel der Berufung zum Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden.

Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 27.09.2024, 56 Ga 11777/24

Quelle: Pressemitteilung Nr. 18/24 vom 27.09.2024

Terminankündigung: Landesarbeitsgericht entscheidet über Untersagung des Berliner Kita-Streiks

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg verhandelt am

Freitag, 11. Oktober 2024, 11:00 Uhr, Saal 334

im Dienstgebäude Magdeburger Platz 1, 10785 Berlin, über die Berufung der Gewerkschaft ver.di gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 27. September 2024, mit dem der Berliner Kita-Streik untersagt worden war.

Das Land Berlin hatte am 26. September 2024 beantragt, der Gewerkschaft ver.di im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes zu untersagen, Streiks in den Kitas der Kita-Eigenbetriebe des Landes Berlin zur Erzwingung von Tarifverhandlungen durchzuführen. Zu dem Streik hatte die Gewerkschaft ihre Mitglieder am 26. September 2024 aufgerufen, nachdem zuvor in einer Urabstimmung 91,7 % der Mitglieder für einen solchen Streik gestimmt hatten. Das Arbeitsgericht Berlin hat den Streik durch Urteil vom 27. September 2024 untersagt (PM Nr. 18/24 vom 27.09.2024). Der Streik wurde daraufhin nicht wie geplant ab Montag, dem 30. September 2024, durchgeführt.

Gegen das Urteil hat die Gewerkschaft ver.di am 2. Oktober 2024 Berufung zum Landesarbeitsgericht eingelegt und diese am 4. Oktober 2024 begründet.

Es findet ein Kammertermin vor der Kammer 12 des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg statt.

Az.: 12 SaGa 886/24

Quelle: Pressemitteilung Nr. 19/24 vom 09.10.2024

Honorarvereinbarung mit Verbrauchern – Kombination von Stundensatzvereinbarung und RVG Komponenten: BGH stellt klar?!

24. September 2024

Im Ergebnis der Entscheidung des BGH sind Kombination(en) von Stundensätzen und RVG-Abrechnung unwirksam.
Der Vergütungsanspruch entfällt jedoch nicht gänzlich. Zwischenabrechnung und Mitteilung zum Vergütungsumfang sind förderlich, jedoch nicht unbedingt notwendig.

Leitsätze des BGH:

BGB § 307 Abs. 1 Be, Cb, § 310 Abs. 3

Eine formularmäßig getroffene anwaltliche Zeithonorarabrede ist auch im Rechtsver-
kehr mit Verbrauchern nicht allein deshalb unwirksam, weil der Rechtsanwalt weder
dem Mandanten vor Vertragsschluss zur Abschätzung der Größenordnung der Ge-
samtvergütung geeignete Informationen erteilt noch sich dazu verpflichtet hat, ihm
während des laufenden Mandats in angemessenen Zeitabständen Zwischenrechnun-
gen zu erteilen oder Aufstellungen zu übermitteln, welche die bis dahin aufgewandte
Bearbeitungszeit ausweisen.

BGB § 675 Abs. 1, § 306 Abs. 2; RVG § 1 Abs. 1 Satz 1

Ist eine formularmäßig getroffene anwaltliche Vergütungsvereinbarung aus AGB-
rechtlichen Gründen insgesamt unwirksam, richten sich die Honoraransprüche des
Rechtsanwalts nach den Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.

BGH, Urteil vom 12. September 2024 – IX ZR 65/23

OLG Nürnberg
LG Amberg

Feiertagszuschläge – Maßgeblichkeit des regelmäßigen Beschäftigungsorts

1. August 2024

Für Beschäftigte, die unter den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) fallen, richtet sich der Anspruch auf Feiertagszuschläge danach, ob am regelmäßigen Beschäftigungsort ein gesetzlicher Feiertag ist.

Der Kläger, dessen regelmäßiger Beschäftigungsort in Nordrhein-Westfalen liegt, nahm auf Anordnung seines Arbeitgebers vom 1. bis 5. November 2021 an einer Fortbildungsveranstaltung in Hessen teil. Das auf den 1. November fallende Hochfest Allerheiligen ist zwar nach dem Feiertagsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen gesetzlicher Feiertag, nicht jedoch nach den für das Bundesland Hessen geltenden landesrechtlichen Bestimmungen. Vor diesem Hintergrund streiten die Parteien darüber, ob dem Kläger gleichwohl für die am 1. November 2021 von ihm in Hessen unstreitig erbrachte Arbeitsleistung Feiertagszuschläge zustehen. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen.

Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Dem Kläger stehen die begehrten Feiertagszuschläge zu. Für den Zuschlagsanspruch ist nach den tariflichen Regelungen des TV-L der regelmäßige Beschäftigungsort maßgeblich. Dieser lag im Streitfall in Nordrhein-Westfalen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 1. August 2024 – 6 AZR 38/24
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 11. Januar 2024 – 11 Sa 936/23

Quelle: Pressemitteilung 20/24 des Bundesarbeitsgerichtes vom 01.08.2024

Aufrechnung mit verjährten Schadensersatzforderungen wegen Beschädigung der Mietsache gegen Kautionsrückzahlungsanspruch

11. Juli 2024

Urteil vom 10. Juli 2024 – VIII ZR 184/23

Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass eine Aufrechnung des Vermieters mit verjährten Schadensersatzforderungen wegen Beschädigung der Mietsache gegen den Kautionsrückzahlungsanspruch des Mieters im Rahmen der Kautionsabrechnung regelmäßig auch dann möglich ist, wenn der Vermieter die ihm zustehende Ersetzungsbefugnis (Verlangen von Schadensersatz in Geld statt einer Wiederherstellung der beschädigten Sache) nicht in unverjährter Zeit ausgeübt hat.

Sachverhalt:

Die Klägerin begehrt nach Beendigung des Wohnungsmietvertrags und Rückgabe der Wohnung am 8. November 2019 die Rückzahlung der von ihr geleisteten Barkaution in Höhe von rund 780 €. Der beklagte Vermieter rechnete mit Schreiben vom 20. Mai 2020 über die Kaution ab und erklärte die Aufrechnung mit – streitigen – Schadensersatzansprüchen wegen Beschädigung der Mietsache in einer das Kautionsguthaben übersteigenden Höhe. Die Klägerin hat sich insoweit auf Verjährung berufen.

Bisheriger Prozessverlauf:

Die Klage hat in den Vorinstanzen Erfolg gehabt.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts scheitert die vom Beklagten erklärte Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen wegen Beschädigung der Mietsache daran, dass diese im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung bereits verjährt gewesen waren.

Zwar stehe die Verjährung der Aufrechnung gemäß § 215 Alt. 1 BGB nicht entgegen, wenn die Forderung in dem Zeitpunkt, in dem erstmals aufgerechnet werden konnte, noch nicht verjährt gewesen sei. Diese Ausnahme greife vorliegend jedoch nicht ein, da eine Aufrechnungslage in unverjährter Zeit mangels Gleichartigkeit der zur Aufrechnung gestellten Forderungen nicht bestanden habe.

Der Anspruch auf Rückzahlung einer Barkaution als Geldforderung und der auf Naturalrestitution gerichtete Anspruch auf Schadensersatz wegen Beschädigung der Mietsache seien nicht gleichartig. Zwar könne der Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs wegen Beschädigung einer Sache nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB statt der Naturalrestitution den hierfür erforderlichen Geldbetrag verlangen und so die Gleichartigkeit der Forderungen herstellen. Dies erfordere jedoch die Ausübung der dem Gläubiger diesbezüglich zustehenden Ersetzungsbefugnis noch innerhalb der Verjährungsfrist.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte sein Klageabweisungsbegehren weiter.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Die Revision des Beklagten hatte Erfolg. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass eine von den Parteien im Wohnraummietverhältnis getroffene Barkautionsabrede typischerweise dahingehend auszulegen ist, dass die Möglichkeit des Vermieters, sich nach Beendigung des Mietverhältnisses im Rahmen der Kautionsabrechnung hinsichtlich etwaiger Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung der Mietsache durch Aufrechnung befriedigen zu können, nicht an einer fehlenden Ausübung der Ersetzungsbefugnis in unverjährter Zeit scheitern soll.

Das Berufungsgericht hat bei seiner Beurteilung maßgeblich auf die für Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung der Mietsache gesetzlich vorgesehene kurze Verjährungsfrist von sechs Monaten (§ 548 Abs. 1 BGB) abgestellt, innerhalb derer eine Gleichartigkeit der zur Aufrechnung gestellten Forderungen noch nicht bestanden hat. Dabei hat das Berufungsgericht jedoch die beiderseitigen Interessen der Parteien eines Wohnraummietverhältnisses im Falle der Vereinbarung einer Barkaution nicht hinreichend berücksichtigt. Eine vom Mieter gestellte Barkaution dient gerade der Sicherung der Ansprüche des Vermieters; dieser soll sich nach Beendigung des Mietverhältnisses auf einfache Weise durch Aufrechnung gegen den Kautionsrückzahlungsanspruch befriedigen können.

Soweit die Aufrechnung im Hinblick auf das bestehende Erfordernis der Gleichartigkeit der beiden Forderungen voraussetzt, dass der Vermieter die ihm bezüglich etwaiger Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung der Mietsache zustehende Ersetzungsbefugnis ausübt, um Schadensersatz in Form eines Geldbetrags verlangen zu können, hat der Mieter regelmäßig kein Interesse daran, dass dies noch in unverjährter Zeit erfolgt. Die isolierte Ausübung der Ersetzungsbefugnis innerhalb der Verjährungsfrist wäre insofern ein lediglich formaler Schritt im Vorfeld zu der für beide Parteien letztlich maßgeblichen Abrechnung des Vermieters über die Barkaution, die ihrerseits nach der Rechtsprechung des Senats nicht in jedem Fall innerhalb der kurzen Verjährungsfrist zu erfolgen hat.

Da die Aufrechnung des Vermieters hiernach nicht an der Verjährung scheitert, hat der Senat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen dazu treffen kann, ob die von dem beklagten Vermieter behaupteten Schadensersatzansprüche bestehen.

Vorinstanzen:

AG Erlangen – 1 C 302/21 – Urteil vom 7. Juli 2022

LG Nürnberg-Fürth – 7 S 3897/22 – Urteil vom 25. Juli 2023

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 215 BGB

Die Verjährung schließt die Aufrechnung und die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts nicht aus, wenn der Anspruch in dem Zeitpunkt noch nicht verjährt war, in dem erstmals aufgerechnet oder die Leistung verweigert werden konnte.

§ 249 BGB

(1) Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.

(2) Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. […]

§ 387 BGB

Schulden zwei Personen einander Leistungen, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind, so kann jeder Teil seine Forderung gegen die Forderung des anderen Teils aufrechnen, sobald er die ihm gebührende Leistung fordern und die ihm obliegende Leistung bewirken kann.

§ 548 BGB

(1) Die Ersatzansprüche des Vermieters wegen Veränderungen oder Verschlechterungen der Mietsache verjähren in sechs Monaten. Die Verjährung beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem er die Mietsache zurückerhält. […]

Urteil des VIII. Zivilsenats vom 10.7.2024 – VIII ZR 184/23 -

Quelle: Pressemitteilung Nr. 144/2024 des Bundesgerichtshofes vom 10.07.2024

Einer schwangeren Arbeitnehmerin muss eine angemessene Frist eingeräumt werden, um ihre Kündigung vor Gericht anfechten zu können

28. Juni 2024

Eine Frist von zwei Wochen für den Antrag auf Zulassung einer verspäteten Klage scheint zu kurz zu sein.

Eine Angestellte eines Pflegeheims ficht ihre Kündigung vor einem deutschen Arbeitsgericht an. Sie beruft sich auf das Verbot, einer Schwangeren zu kündigen. Das Arbeitsgericht ist der Auffassung, dass es die Klage normalerweise als verspätet abweisen müsse.

Als die Arbeitnehmerin von ihrer Schwangerschaft Kenntnis erlangt und die Klage erhoben habe, sei nämlich die im deutschen Recht vorgesehene ordentliche Frist – drei Wochen (1) nach Zugang der schriftlichen Kündigung – bereits verstrichen gewesen. Überdies habe die Arbeitnehmerin es versäumt, innerhalb der im deutschen Recht vorgesehenen weiteren Frist von zwei Wochen1 einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage zu stellen. Das Arbeitsgericht fragt sich jedoch, ob die in Rede stehende deutsche Regelung mit der Richtlinie über schwangere Arbeitnehmerinnen vereinbar ist (2).

Es hat daher den Gerichtshof dazu befragt. Der Gerichtshof stellt fest, dass nach der deutschen Regelung eine schwangere Arbeitnehmerin, die zum Zeitpunkt ihrer Kündigung Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hat, über eine Frist von drei Wochen verfügt, um eine Klage zu erheben (3).

Dagegen verfügt eine Arbeitnehmerin, die aus einem von ihr nicht zu vertretenden Grund vor Verstreichen dieser Frist keine Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hat, nur über zwei Wochen, um zu beantragen, eine solche Klage erheben zu können.

Nach Auffassung des Gerichtshofs scheint eine so kurze Frist, insbesondere verglichen mit der ordentlichen Frist von drei Wochen, mit der Richtlinie unvereinbar zu sein (4). In Anbetracht der Situation, in der sich eine Frau zu Beginn ihrer Schwangerschaft befindet, scheint diese kurze Frist nämlich dazu angetan, es der schwangeren Arbeitnehmerin sehr zu erschweren, sich sachgerecht beraten zu lassen und gegebenenfalls einen Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage sowie die eigentliche Klage abzufassen und einzureichen.

Es ist jedoch Sache des Arbeitsgerichts, zu prüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist.

Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-284/23 | Haus Jacobus

(1) Nach Behebung des Hindernisses für die Klageerhebung.
(2) Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des
Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz.
(3) Nach Verstreichen dieser Frist gilt die Kündigung als wirksam, sofern nicht ein Antrag auf Zulassung der verspäteten Klage gestellt wird.
(4) In seinem Urteil vom 29. Oktober 2009, Pontin, C-63/08 (vgl. auch die Pressemitteilung Nr. 98/09), hat sich der Gerichtshof in Bezug auf eine Frist
von 15 Tagen, die für eine schwangere Arbeitnehmerin für die Erhebung einer Klage auf Nichtigerklärung ihrer Kündigung gelten sollte, bereits in
diesem Sinne geäußer

Quelle: Pressemitteilung Nr. 108/24 des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 27.06.2024

Einrichtungsbezogener Impfnachweis – unbezahlte Freistellung – Abmahnung wegen Nichtvorlage eines Impfnachweises

27. Juni 2024

Betreiber von Pflegeeinrichtungen iSd. vormaligen § 20a Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG aF) durften in der Zeit vom 16. März 2022 bis zum 31. Dezember 2022 nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpfte Mitarbeiter ohne Fortzahlung der Vergütung von der Arbeit freistellen. Zur Abmahnung dieser Arbeitnehmer waren die Arbeitgeber dagegen nicht berechtigt.

Der Beklagte betreibt ein Altenpflegeheim. Die Klägerin ist bei ihm seit 2007 als Altenpflegerin beschäftigt. Sie ließ sich nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 impfen und legte dem Beklagten entgegen der gesetzlichen Vorgabe weder einen Impfnachweis noch einen Genesenennachweis oder ein ärztliches Attest, dass sie nicht geimpft werden könne, vor. Der Beklagte erteilte ihr deshalb eine Abmahnung und stellte sie ab dem 16. März 2022 bis auf Widerruf ohne Fortzahlung der Vergütung von der Arbeit frei. Vom 21. bis zum 31. März 2022 war die Klägerin außerdem infolge einer Corona-Infektion arbeitsunfähig krank.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Entfernung der ihr erteilten Abmahnung aus der Personalakte sowie restliche Vergütung für März 2022 verlangt. Sie hat geltend gemacht, es habe keine arbeitsvertragliche Pflicht bestanden, dem Arbeitgeber den Impf- oder Genesenenstatus nachzuweisen. Der Beklagte sei zu einer unbezahlten Freistellung nicht berechtigt gewesen, weil sie als sog. Bestandsmitarbeiterin (das sind vor dem 16. März 2022 eingestellte Arbeitnehmer) bis zu einer entsprechenden Untersagung durch die zuständige Behörde auch ohne Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 hätte weiter arbeiten dürfen. Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und im Wesentlichen gemeint, er sei aufgrund der infektionsschutzrechtlichen Vorgaben berechtigt gewesen, in seiner Pflegeeinrichtung nur noch geimpftes oder genesenes Personal zu beschäftigen.

Die Vorinstanzen haben der Klägerin restliche Vergütung für März 2022 zugesprochen. Die Klage auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte hat das Arbeitsgericht abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Auf die Revision des Beklagten hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts die Klage auf Vergütung abgewiesen, hinsichtlich der Abmahnung jedoch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts im Ergebnis bestätigt.

Die Klägerin hat für die Zeit ihrer Freistellung im März 2022 keinen Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs (§ 615 Satz 1 iVm. § 611a Abs. 2 BGB), weil sie entgegen der Anordnung des Beklagten diesem keinen Immunitätsnachweis iSd. § 20a IfSG aF vorgelegt hat und damit außerstande war, die geschuldete Arbeitsleistung zu bewirken (§ 297 BGB). Nach § 20a IfSG aF, der der verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht standhielt (BVerfG 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21BVerfGE 161, 299), war nicht nur das Gesundheitsamt berechtigt, einer Person, die den Immunitätsnachweis nicht vorgelegt hatte, zu untersagen, die jeweilige Einrichtung zu betreten und dort tätig zu werden. Der aus der Gesetzesbegründung herzuleitende Zweck der Regelung, insbesondere vulnerable Bewohner von Pflegeeinrichtungen und Patienten von Krankenhäusern vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu schützen und zugleich die Funktionsfähigkeit der Einrichtungen aufrechtzuerhalten, eröffnete ebenso den Arbeitgebern als Betreibern dieser Einrichtungen die rechtliche Möglichkeit, im Wege des Weisungsrechts nach § 106 Satz 1 GewO die Vorgaben des § 20a IfSG aF umzusetzen und die Vorlage eines Immunitätsnachweises für den begrenzten Zeitraum vom 16. März bis zum 31. Dezember 2022 zur Tätigkeitsvoraussetzung zu machen. Da die Gesundheitsämter in jener Zeit völlig überlastet waren, war anders eine sachgerechte und zeitnahe Umsetzung dieser Schutzmaßnahme, die die Interessen der besonders gefährdeten Personengruppen und die Funktionsfähigkeit der einzelnen Einrichtung berücksichtigte, nicht möglich. Dass sich in den Jahren danach Zweifel an der Effektivität dieser Maßnahme ergaben, steht der Wirksamkeit der Weisungen nicht entgegen. Maßgeblich ist insoweit der Zeitpunkt der Weisung. Anfang des Jahres 2022 entsprach es ganz überwiegender wissenschaftlicher und auch der vom Bundesministerium für Gesundheit und dem Robert-Koch-Institut vertretenen Auffassung, dass eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 vor einer Übertragung des Virus schützt. Hiervon konnte auch der Beklagte ausgehen.

Soweit die Klägerin im Streitzeitraum auch arbeitsunfähig krank war, scheitert ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 EFZG am Grundsatz der sog. Monokausalität, denn die Erkrankung der Klägerin war wegen des zugleich fehlenden Immunitätsnachweises nicht die alleinige Ursache für den Verdienstausfall.

Erfolglos blieb dagegen die Revision des Beklagten hinsichtlich seiner Verurteilung, die der Klägerin erteilte Abmahnung aus deren Personalakte zu entfernen. Eine Abmahnung soll den Arbeitnehmer grundsätzlich auf eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten aufmerksam machen, ihn für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auffordern und ihm mögliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung aufzeigen. In der unterlassenen Vorlage eines Immunitätsnachweises (§ 20a Abs. 2 IfSG aF) liegt danach keine abmahnfähige Pflichtverletzung. Das in Art. 2 Abs. 1 GG wurzelnde Selbstbestimmungsrecht der im Pflegebereich Tätigen, in freier Entscheidung eine Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 abzulehnen, sowie deren Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) hatten Arbeitgeber als höchstpersönliche Entscheidung der Arbeitnehmer zu respektieren. Wegen des vom Beklagten zu achtenden besonderen Charakters dieser grundrechtlich geschützten Entscheidung der Klägerin erweist sich die Abmahnung als ungeeignetes Mittel zur Verhaltenssteuerung. Aufgrund der mit ihr verbundenen Gefährdung des Bestands des Arbeitsverhältnisses ist sie – anders als der vorübergehende Verlust der Entgeltansprüche für die befristete Dauer der Freistellung – eine unangemessene Druckausübung und damit unverhältnismäßig.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Juni 2024 – 5 AZR 192/23
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – Kammern Freiburg, Urteil vom 28. Februar 2023 – 11 Sa 51/22

Hinweise: Vgl. auch die ähnlich gelagerte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom heutigen Tag, Urteil vom 19. Juni 2024 – 5 AZR 167/23

Quelle: Pressemitteilung 16/24 des Bundesarbeitsgerichtes vom 19.06.2024

Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Deckungsklage in der Rechtsschutzversicherung – “Dieselklagen”

11. Juni 2024

Urteil vom 5. Juni 2024 – IV ZR 140/23

Der unter anderem für Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht des Deckungsschutzanspruchs eines Versicherungsnehmers in der Rechtsschutzversicherung der Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich ist, wenn im Deckungsschutzverfahren nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife eine Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (hier durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den sog. Dieselverfahren) zu seinen Gunsten erfolgt.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:

Der Kläger nimmt die Beklagte auf Feststellung der Verpflichtung zur Gewährung von Deckungsschutz für die außergerichtliche und erstinstanzliche Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen gegen eine Herstellerin wegen behaupteter Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung bei einem von ihm erworbenen Fahrzeug in Anspruch. Er unterhält bei der Beklagten eine Rechtsschutzversicherung, die Schadensersatzansprüche umfasst. Die dem Versicherungsvertrag zugrundeliegenden Allgemeinen Rechtsschutz-Versicherungsbedingungen (ARB 2016) lauten auszugsweise:

“§ 3a Ablehnung des Rechtsschutzes wegen mangelnder Erfolgsaussichten oder wegen Mutwilligkeit – Stichentscheid

Die A. kann den Rechtsschutz ablehnen, wenn ihrer Auffassung nach

a)in einem der Fälle des § 2 a) bis g), n), q) aa) und cc) sowie r) aa) die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder

In diesen Fällen ist dem Versicherungsnehmer, nachdem dieser die Pflichten gemäß § 17 Abs. 1 b) erfüllt hat, die Ablehnung unverzüglich unter Angabe der Gründe schriftlich mitzuteilen.

…”.

Der Kläger erwarb im August 2020 ein gebrauchtes Wohnmobil zu einem Kaufpreis von 39.790 €. Er beabsichtigt mit einer Klage gegen die Herstellerin, Schadensersatzansprüche (§§ 823 Abs. 2, 826 BGB) gerichtet auf Rückabwicklung des Kaufvertrages geltend zu machen. Er wirft ihr vor, die Verantwortlichen hätten das von ihm erworbene Fahrzeug mit unzulässigen Abschalteinrichtungen im Sinne des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007, insbesondere einem Thermofenster, ausgestattet und ihn dadurch vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt. Die Beklagte hat die erbetene Kostenzusage mit Schreiben vom 16. Februar 2021 abgelehnt, weil weder ein Rechtsverstoß vorliege noch Erfolgsaussichten in der Sache bestünden.

Das Landgericht hat die Deckungsschutzklage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht – im schriftlichen Verfahren mit Schriftsatzfrist bis zum 15. Mai 2023 – unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen das erstinstanzliche Urteil abgeändert und unter anderem festgestellt, dass die Beklagte aus dem Versicherungsvertrag verpflichtet ist, die Kosten der erstinstanzlichen Geltendmachung von deliktischen Schadensersatzansprüchen des Klägers gegen die Herstellerin aufgrund des Kaufs des Fahrzeugs und der von dem Kläger behaupteten Manipulation der Abgassteuerung dieses Fahrzeugs aus einem Streitwert von bis zu 38.848,89 € zu tragen. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Beklagten, mit der sie ihr Begehren auf vollständige Klageabweisung weiterverfolgt.

Entscheidung des Senats:

Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Versicherers zurückgewiesen. Erfolgt nach dem Zeitpunkt der sogenannten Bewilligungsreife eine Klärung der Rechtslage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (hier durch den Gerichtshof der Europäischen Union) zugunsten des Versicherungsnehmers, sind für die Beurteilung des Deckungsschutzanspruchs die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Klage im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich.

Für die Frage, ob die beabsichtigte Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist zwar grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Deckungsgesuchs, d.h. auf den Zeitpunkt, in dem der Rechtsschutzversicherer seine Entscheidung trifft (hier Dezember 2021), abzustellen. Treten aber – wie hier – zwischen der ablehnenden Entscheidung des Deckungsschutzantrags und der gerichtlichen Entscheidung über eine Deckungsklage Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten ein, die sich zugunsten des Rechtsschutzsuchenden auswirken und die nach dem einschlägigen Fachrecht zu berücksichtigen sind, sind diese bei der Prüfung der Erfolgsaussichten zu beachten. Das Berufungsgericht hat im Streitfall daher zu Recht bei der Prüfung der Erfolgsaussichten die nach dem Zeitpunkt der Deckungsablehnung ergangene, dem klagenden Versicherungsnehmer günstige Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group, C- 00/21, EU:C:2023:229, NJW 2023, 1111 ff.) berücksichtigt, wonach Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG (Rahmenrichtlinie) i.V.m. Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 715/2007 die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs schützen können.

Das Berufungsgericht hat auch rechtsfehlerfrei entschieden, dass die vom Kläger beabsichtigte gerichtliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen Aussicht auf Erfolg hat. Zum Zeitpunkt des Ablaufs der im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 Satz 2 ZPO bis zum 15. Mai 2023 festgesetzten Schriftsatzfrist, die dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht, ist das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der genannten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. März 2023 sowie der Anforderungen an die hinreichenden Erfolgsaussichten der beabsichtigen Klage nach der Behauptung des Klägers zum Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung aufgrund des behaupteten Thermofensters ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Annahme eines fälligen Schadensersatzanspruchs aus §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 715/2007 und Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG (Rahmenrichtlinie) jedenfalls nicht unvertretbar erschien. Zu diesem Zeitpunkt bedurften die Einzelheiten der Voraussetzungen und der Modalitäten eines solchen Schadensersatzanspruchs noch einer weiteren Klärung, die erst durch die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 26. Juni 2023 erfolgte. Soweit sich aus den neueren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ergeben könnte, dass dem Kläger der geltend gemachte Schadensersatzanspruch nicht oder nur im geringeren Umfang zusteht, führt dies hier zu keinem anderen Ergebnis, weil das Berufungsgericht zum Zeitpunkt des Erlasses seines Urteils die weitere Entwicklung der Rechtsprechung nicht absehen konnte.

Vorinstanzen:

Landgericht Dortmund – Urteil vom 4. Januar 2023 – 7 O 20/22

Oberlandesgericht Hamm – Urteil vom 12. Juni 2023 – 6 U 22/23

Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichteshofes Nr. 127/2024 vom 05.06.2024